Ich bin Tochter eines Togoers. Togo ist ein sehr kleines Land in Westafrika, es liegt zwischen Ghana und Benin und war eine deutsche Kolonie. Meinem Vater war es wichtig, dass ich mein afrikanisches Erbe mit Stolz trage. 

Sobald wir zu Hause Zugang zum Internet hatten, machte ich mir nach der Schule einen Spaß daraus, afrikanische Länder zu googeln: Malawi, Guinea, Swasiland, Lesotho, stundenlang scrollte ich durch Wikipedia-Artikel. Ich sog alles auf, was ich zur Geschichte des afrikanischen Kontinents in die Hände bekam.  

Mit drei Jahren nahm mein Vater mich das erste Mal mit in sein Geburtsland, wo ich meine Verwandten kennenlernte. Er machte mir klar, dass ich Ewe bin, eine der ethnischen Gruppen, die man in Togo, Ghana, Benin und Nigeria findet, und erzählte mir von unserem Ursprung. Er erzählte mir von Historiker:innen wie dem Senegalesen Cheikh Anta Diop, die davon ausgingen, dass wir einst ein Nomadenvolk waren, das über Nordafrika den Weg nach Westafrika fand. Für meinen Vater war Togo – war Afrika – der Mittelpunkt. Der Punkt, von dem aus er auf Weltpolitik, Geschichte und Wirtschaft blickte.

Eurozentrismus und Afrozentrismus

Auch Togoerin zu sein, darauf war ich immer stolz. Erst als ich in Deutschland in die Schule kam, merkte ich: Afrikanisch sein ist nicht besonders cool. Andere Kinder, aber auch Erwachsene, begegneten mir in Gesprächen immer wieder mit einer Mischung aus Unwissen und Abwertung. Mitschüler:innen sagten: "Togo, was soll das sein?" – "Leben die dort alle auf Bäumen?" – "Gibt's da überhaupt Strom?" – "Ach klar, Coffee to go!". Die Erwachsenen um mich herum nutzten den afrikanischen Kontinent als Negativbeispiel, um uns Kinder zu erziehen: "Iss deinen Teller leer, in Afrika hungern die Kinder!" Der Kontinent, und damit auch mein Land Togo – denn differenziert wurde da nicht –, waren eine Projektionsfläche für weiße, europäische Armutsfantasien. Als Kind verwirrte mich das. Ich konnte die Wahrnehmung meines Umfelds nicht mit den Erzählungen meines Vaters vereinen. Sie existierten parallel zueinander. Die müssen von einem anderen Afrika sprechen, dachte ich mir.   

Für viele Deutsche, das merkte ich irgendwann, standen Europa, der Westen, immer und überall im Mittelpunkt ihrer Weltanschauung. Dafür gibt es ein Wort: Eurozentrismus. Der Eurozentrismus betrachtet europäische Kulturen und Geschichtsschreibungen als kulturell, politisch sowie wirtschaftlich überlegen. Eurozentrismus ist die Grundlage für die rassistischen Stereotype über den afrikanischen Kontinent, die seit Jahrhunderten die europäische Geschichtsschreibung prägen. Vielen Menschen in Deutschland ist nicht bewusst, welche Konsequenzen dieser rassistische Blick für Menschen und Kulturen dieser Welt hat.  

In der Darstellung meines Vaters war es Europa, das schon immer von Afrika abhängig gewesen war – und nicht andersherum.

Der Afrozentrismus entstand als Antwort auf diesen eurozentrischen Blick. Er zielt darauf ab, die Geschichte, Kultur und Perspektiven von Afrikaner:innen und der afrikanischen Diaspora zu feiern und damit die vorherrschende negative Darstellung Afrikas zu korrigieren.  

Die afrozentrische Perspektive meines Vaters eröffnete mir einen umfangreicheren Blick auf die Welt und ihre Krisen: auf strukturellen Rassismus zum Beispiel oder auch auf den Klimawandel. Eine solche Öffnung der Perspektive, eine Lösung vom Eurozentrismus, wäre notwendig, damit westliche Gesellschaften die globalen Krisen besser verstehen.  

Der Mythos vom Heilsbringer

Als Teenagerin besuchte ich dann in Berlin eine französische Schule. Fast alle meine Schulfächer wurden nach dem französischen Curriculum unterrichtet – auch Geografie und Geschichte. Meine Mitschüler:innen und ich lernten, Quellen auf Französisch zu analysieren, Welt- und Landkarten zu zeichnen und historische Ereignisse zu interpretieren. Der französische Kolonialismus wurde – anders als in Deutschland – in unseren Schulbüchern zwar thematisiert, aber immer als Relikt einer längst vergangenen Zeit. Dass sich die koloniale Herrschaft auch über die Unabhängigkeit hinaus auf soziale Strukturen, die Politik, die Wirtschaft und die Kulturen vieler afrikanischer Länder auswirkte, spielte im Unterricht keine Rolle. Im Gegenteil: Im französischen Lehrplan war das Narrativ festgeschrieben, dass die ehemaligen Kolonialmächte die afrikanischen Länder nach ihrer Unabhängigkeit beim Wiederaufbau unterstützt hätten – in Form von Entwicklungshilfe. Europa, der Westen – das waren dieser Logik folgend die Retter:innen des afrikanischen Kontinents.  

Diese Erzählung stand in deutlichem Widerspruch zu dem, was mir mein Vater mitgegeben hatte. In seiner Darstellung war es Europa, das schon immer von Afrika abhängig gewesen war – und nicht andersherum. Denn Afrikas Natur- und Bodenschätze waren für Europas wirtschaftlichen Aufstieg von entscheidender Bedeutung. Hätte Europa den afrikanischen Kontinent in der Zeit der Kolonialherrschaft – und danach – nicht systematisch ausgebeutet, wäre es nie zu einem so reichen Kontinent geworden.  

Dass die europäischen Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent systematisch plünderten, um ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung zu stärken, hat der guyanische Historiker Walter Rodney 1973 in seinem Klassiker der postkolonialen Theorie How Europe Underdeveloped Africa beschrieben. In Zeiten des Kolonialismus galten Afrikaner:innen den Europäer:innen als wild und primitiv. Es hieß, ihre rückständigen Gesellschaften müssten in die Zivilisation geführt werden. Dieses Narrativ diente den europäischen Kolonialmächten dazu, ihre Herrschaft und damit die Unterdrückung zu legitimieren. So sicherten sie sich den Zugang zu afrikanischen Bodenschätzen. 

Diese angenommene moralische Überlegenheit Europas, des Westens, fand ich in meinen Geschichtsbüchern wieder. Die Europäer:innen hingen weiter dem alten Heilsbringermythos an, erklärte mir mein Vater, das sei aus der Art, wie Entwicklungshilfe dort beschrieben werde, zu lesen. Wieder stellten sich Europäer:innen ins Zentrum, nur dass sie die Afrikaner:innen jetzt nicht mehr zivilisieren wollten, sondern auf andere Weise retten: Europäische Regierungen wollten ihnen dabei helfen, sich so zu entwickeln, wie sie es selbst getan hatten. Das, sagte mein Vater, enthalte ein Abhängigkeitsverhältnis, von dem der Westen profitiere, nach wie vor.  

Viele Menschen in Europa nehmen es als gegeben hin, dass der afrikanische Kontinent ärmer ist als der Westen. Das Warum interessiert sie nicht.

Aktuell zeigt sich das in den Handelsverträgen, die die Europäische Union mit afrikanischen Staaten abschließt. Im Fischereisektor im Senegal zum Beispiel subventioniert die Europäische Union Fischereiflotten, die die Meere überfischen. Das gefährdet die Fischbestände und beraubt lokale Fischer:innen ihrer Lebensgrundlage.  

Weil das eigene Wachstum wichtiger ist als der Erhalt von Natur oder das Überleben der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent, treiben europäische Regierungen auch den Klimawandel voran.  

Ein Lob der Brüche

Mein Vater war mein Vorbild, als ich Jugendliche war. Und er ist es bis heute. Ich liebte die politischen Gespräche, in die er mich immer wieder verwickelte. Wenn wir zusammen aßen und er mir stundenlang von unserem Familienstammbaum erzählte, von seinen Reisen über den afrikanischen Kontinent oder von den historischen und politischen Gegebenheiten in Togo, war ich beeindruckt von seinem Wissen. Mit der Zeit verstand ich, dass ich damit großes Glück hatte, denn in meiner Klasse hatten nicht alle Jugendlichen ein oder zwei afrikanische Elternteile, die ihnen eine andere Sicht auf die Weltgeschichte vermitteln konnten als die schulische.  

Und so lernten meine Mitschüler:innen ungebrochen, dass Europa in der Welt an erster Stelle stehe, ohne Möglichkeit, dies zu hinterfragen. Sie lernten, dass die Hierarchien unserer Welt der natürliche Lauf der Dinge sind – und nicht das Ergebnis jahrhundertelanger Unterdrückung. Ihnen etwas anderes zu vermitteln, dafür fehlte mir damals das Selbstbewusstsein.  

Viele Menschen in Europa nehmen es als gegeben hin, dass der afrikanische Kontinent ärmer ist als der Westen. Das Warum interessiert sie nicht. Ich aber wuchs mit diesem Warum auf. 

Der Kalte Krieg auf dem afrikanischen Kontinent

Als Jugendliche erzählte mir mein Vater, welche Konsequenzen die eurozentrische Weltanschauung für die Politik afrikanischer Länder hatte. Er erzählte von demokratisch gewählten Staatsoberhäuptern, die nach der afrikanischen Unabhängigkeitswelle in den 1960er- und 1970er-Jahren ermordet wurden, um die Interessen Europas zu wahren – und die einer kleinen afrikanischen Elite.  

Patrice Lumumba, der erste freigewählte Regierungschef des unabhängigen Kongo, ist ein gutes Beispiel. Im Jahr 1961 – sieben Monate nachdem Lumumba sein Amt angetreten hatte – wurde er von belgischen Regierungsbeamten, der CIA und seinem späteren Nachfolger Mobutu Sese Seko erst gefangen genommen und später ermordet. Lumumba hatte vorher mehrmals den westlichen Imperialismus angeprangert und sich gegen eine weitere Einmischung des Westens in die Politik seines Landes ausgesprochen. 

Um ihr Machtmonopol nach der Unabhängigkeitswelle zu bewahren, waren europäischen Regierungen viele Mittel recht. Und auch die Sowjetunion versuchte, ihren Einfluss auf dem Kontinent auszudehnen und unterstützte zahlreiche afrikanische Länder mit wirtschaftlicher und militärischer Hilfe. Der Kalte Krieg wurde auch auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen. Aus Angst vor einer sozialistischen Weltordnung zerschlugen westliche Mächte emanzipatorische afrikanische Bewegungen. Der Eurozentrismus bot ihnen eine Rechtfertigung für Morde und die Unterstützung diktatorischer Regime. Gleichzeitig präsentierten sie sich der Welt als Retter:innen Afrikas.  

Gegen dieses europäische Selbstverständnis musste ich mich als Kind und als Jugendliche regelmäßig wehren. Es waren nicht nur Kinder und Erwachsene in meinem Umfeld, auch in den Medien wurde dieses Narrativ ständig wiederholt und damit in der Mehrheitsgesellschaft etabliert. Wenn ich von Togo erzählte, von den Machenschaften Frankreichs dort, wurde das als Verschwörungsideologie abgetan.

Die Quellen des Rassismus

Mir half, dass ich mich als Teenager das erste Mal wissenschaftlich mit strukturellem Rassismus auseinandersetzte. Im Internet fand ich dafür gute Quellen. Wieder durchstöberte ich stundenlang Foren und Blogs, las Artikel und schaute Dokumentationen an. Ich beschäftigte mich mit Malcolm X, mit Martin Luther King und mit W. E. B. Du Bois. Ich las James Baldwin, Toni Morrison und Angela Davis. So verstand ich ganz neue Zusammenhänge hinter den Hierarchien dieser Welt. 

Und ich wurde wütend. Denn mir wurde klar, dass Schwarzes Leid und Unterdrückung ein globales Problem sind.