Wie oft hat man in den vergangenen dreißig Jahren die Geschichte von der nächsten Supergeneration Englands gehört, die nun endlich Titel gewinnen wird? Tatsächlich könnte die Mannschaft an diesem Mittwoch mit einem Sieg gegen die Niederlande ins Finale einziehen.  

Dennoch schimpft die Nation auf die Mannschaft und insbesondere auf Gareth Southgate, den Nationaltrainer. Nach dem Halbfinaleinzug nicht mehr ganz so laut wie davor, aber noch immer. Was sie stört: Während viele Nationen bei dieser Euro leidenschaftlich Fußball spielen, erlebt das Turnier ein träges und uninspiriertes England. Es fehlt nicht viel, und wir haben bald einen schlecht gelaunten Europameister.  

Southgate hat es nicht hinbekommen, seine Mannschaft flüssig kombinieren zu lassen. Aber Southgate ist nicht das größte Problem des englischen Fußballs. Das größte Problem sind falsche Erwartungen, die auf ungenauen Analysen beruhen.  

Es ist wie beim Brexit: Man träumt vom alten Empire und vom WM-Titel 1966 und gibt sich der Nostalgie an das Mutterland des Fußballs hin. Die eigenen Grenzen erkennt man nicht. Das führt zu Frust im Stadion, und es muss ein Schuldiger her.  

England schätzt seine Fußballkultur und auch seine Spieler falsch ein. Vom attraktiven Fußball der Premier League verwöhnt, erwarten Fans und Medien ähnliches von der Nationalmannschaft. Doch das ist unmöglich, erst recht unter deren Bedingungen, da sie nur selten miteinander trainiert.   

Vor allem: In der Premier League sind viele Schlüsselpositionen von ausländischen Spielern besetzt, und verantwortet wird das Spektakel von ausländischen Trainern. Welcher englische Trainer hat im Vereinsfußball zuletzt etwas bewegt?   

Zudem ist es dem Erfolg der Nationalmannschaft abträglich, dass es in England keine einheitliche Ausbildungsphilosophie gibt, wie etwa in Spanien (Deutschland hat die auch nicht), also müssen englische Fu��baller im Erwachsenenalter von den Trainern aus Spanien, Italien, Portugal oder Südamerika an den modernen Fußball herangeführt werden.

Es fehlt vielen an Spielverständnis

England soll offensiver spielen, fordern Kritiker, am besten wie Spanien. Doch Southgates Entscheidung, auf defensiven Ergebnisfußball zu setzen, ist grundsätzlich richtig. Er hat teure Spieler, ja, aber keine homogene Auswahl. Aus diesen Einzelteilen eine Siegmannschaft zu bauen, ist eine viel schwierigere Aufgabe, als die Kritiker glauben. England könnte auch mit Pep Guardiola nicht wie Spanien spielen.  

Denn dem Kader fehlt vieles. John Stones ist ein verlässlicher Verteidiger, der schwer auszuspielen ist. Führt er aber den Ball, wirkt das, als wäre er im Dartmoor unterwegs und nicht auf gemähtem Rasen. Will man dem Gegner keine Luft lassen, sind die ersten fünf oder zehn Meter in der Spielentwicklung aber wichtig.   

Kyle Walker ist eine außergewöhnliche Mischung aus Boxer und Sprinter. Aber Pep Guardiola hat Jahre gebraucht, um ihm das Einmaleins des kollektiven Verteidigens beizubringen. Noch immer hebt Walker ab und an das Abseits auf oder läuft zum falschen Gegenspieler.   

Auf dem Flügel ist das Dilemma ähnlich. Sieht man Bukayo Saka beim Fußballspielen zu, denkt man im ersten Moment: "Wow! Diese Dribblings sind nicht zu verteidigen." Schaut man eine ganze Halbzeit hin, erkennt man Unfertiges. Sakas Passspiel wird unsauber, er schaltet oft ab, es mangelt an Spielverständnis.