Wer eine neue Partei gründen will, hat zwei Möglichkeiten. Er lädt erst einmal alle ein, die auch eine andere Politik wollen. Mit etwas Glück sind das sehr schnell sehr viele Menschen, was die Partei rasant wachsen lässt. Auf der anderen Seite erhöht es die Anzahl derer, die mitreden wollen, worin diese andere Politik denn nun genau bestehen soll – weshalb sich fast alle neuen Parteien nach dem Zauber des Anfangs bald in zermürbenden Grundsatzdiskussionen wiederfinden. Bei den Grünen hat dieser Prozess zwanzig Jahre gedauert, bei der Linken hat er zur Spaltung geführt, bei der AfD zur Radikalisierung. Dass man erst an die Macht kommen muss, um eine andere Politik durchsetzen zu können, vereinfacht die Sache auch nicht. Dennoch ist es der übliche Weg.

Die andere Möglichkeit ist: Man macht es wie Sahra Wagenknecht.

Als sich das Bündnis Sahra Wagenknecht, kurz BSW, Anfang des Jahres gründete, hatte es 433 Mitglieder. Sechs Monate später sind kaum mehr als 250 hinzugekommen. Das liegt aber nicht daran, dass es keine Bewerber gebe, im Gegenteil. Schon kurz nach der Gründung stapelten sich in der provisorischen Parteizentrale in Berlin-Mitte – ein Tisch, vier Stühle, acht Büroquadratmeter – Tausende Aufnahmeanträge. Es liegt daran, dass die Partei jeden Kandidaten zuerst eingehend prüft und danach zu einem persönlichen Gespräch einlädt, bevor der Vorstand über seinen Antrag entscheidet. Das dauert, aber so ist der Weg im BSW. Alle neuen Mitglieder werden durch die Führung des jeweiligen Landesverbandes ausgesucht, der sich mit dem Führungskreis um Wagenknecht abspricht, in dessen Mitte wiederum sie und ihr Mann Oskar Lafontaine stehen.

Für jemanden aus Westdeutschland mag das quer zur Logik liegen, nach der Parteien normalerweise aufgebaut sind. Jemand, der im Osten aufgewachsen ist, fühlt sich dagegen an das Prinzip des "Demokratischen Zentralismus" erinnert, nach dem Lenin die "Partei neuen Typs" organisieren wollte. Demokratisch, weil die untere Ebene die obere wählt. Zentralistisch, weil die obere Ebene die untere auswählt. Mehr als hundert Jahre nach der Oktoberrevolution pflügt Wagenknecht damit die politische Landschaft in Ostdeutschland um. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo diesen September gewählt wird, steht das Bündnis in den Umfragen so gut da, dass es sogar an die Macht kommen könnte.

Wie ist das zu erklären?

Sabine Zimmermann ist Landesvorsitzende in Sachsen. Für sie ist das BSW die dritte Partei nach der Wiedervereinigung. Aus der SPD ist sie raus wegen Hartz IV. Aus der Linken, für die sie jahrelang im Bundestag saß, ist sie raus, weil dort "die Interessen der Menschen nicht mehr im Mittelpunkt standen" und Wagenknecht, die "auf dieses Manko immer wieder hingewiesen" hat, innerhalb der Partei "an den Rand gedrängt" wurde. Für das BSW hat Zimmermann ihren Job als Gewerkschaftschefin aufgegeben, um fast im Alleingang die Landesverbände in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern aufzubauen. Wochenlang ist sie im Auto herumgefahren, hat Leute gesprochen, die sich über die Website der Partei beworben hatten. Sie traf sie in Cafés, Bahnhöfen, Autobahnraststätten, bei McDonald’s. "Speed-Dating" nennt sie das ironisch.

"Gerade junge Parteien ziehen leider oft auch Glücksritter, Narzissten oder Extremisten an", hatte Wagenknecht in einem Interview gewarnt, da war das Bündnis noch gar nicht gegründet. Dass zwei Mitglieder nun zur erzkonservativen Werteunion überliefen, gleich nachdem sie für das BSW in den Gothaer Kreistag gewählt worden waren, beweist vermutlich, dass man auch nach Prüfung nicht jeden kennen kann.

Die Verschiebung

Wahlumfragen vor und nach der Gründung des BSW im

September 2023, Angaben in Prozent

32

25

20

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13

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Brandenburg

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ZEIT-Grafik/Quelle: * Infratest dimap, ** INSA

Die Verschiebung

Wahlumfragen vor und nach

der Gründung des BSW im

September 2023, Angaben in Prozent

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ZEIT-Grafik/Quelle: * Infratest dimap, ** INSA

Die Verschiebung

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ZEIT-Grafik/Quelle: * Infratest dimap, ** INSA

Die Verschiebung

Wahlumfragen vor und nach

der Gründung des BSW im

September 2023, Angaben in Prozent

Brandenburg

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ZEIT-Grafik/Quelle: * Infratest dimap, ** INSA

Die Verschiebung

Wahlumfragen vor und nach

der Gründung des BSW im

September 2023, Angaben in Prozent

Brandenburg

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Die meisten Mitglieder, die das Bündnis im Osten hat, waren früher in der Linken und haben politische Erfahrung. Sie saßen für die Partei in Parlamenten, hatten Ämter inne und wissen, was ein Geschäftsordnungsantrag ist. Sie, die sich selbst die Wagenknechte nennen, bilden das organisatorische Rückgrat des BSW. Ohne sie würde das ganze Projekt nicht funktionieren. Ihrem Wechsel ging oft ein jahrelanger Entfremdungsprozess von der Linken voraus.

"Es wurde nur noch Politik für die Großstadt und junge Leute gemacht", sagt Detlef Tabbert, Bürgermeister von Templin, der den Brandenburger BSW-Landesverband mitgegründet hat.

"Bei der Linken durfte ich nie sagen, dass ich für eine Bezahlkarte für Flüchtlinge bin", sagt Robert Henning, der bei den Kommunalwahlen als Ortschaftsbürgermeister in Bleicherode das bundesweit erste Amt für das BSW holte.

"Ich fand es nicht richtig, wie die Partei in der Pandemie Bürger pauschal als Schwurbler oder Nazis ausgegrenzt hat, weil sie gegen die Coronamaßnahmen demonstriert haben", sagt Jens Hentschel-Thöricht, der zwanzig Jahre bei der Linken war und für das BSW jetzt den Wahlkampf in Sachsen leitet. "Man muss sich wenigstens austauschen."